24 August, 2008

Dietrich Schwanitz, Die Welt des Buches und der Schrift

Dietrich Schwanitz: „Bücher - Schrift - Lesen"



"Bevor heute ein Kind liest, sieht es fern. Das schafft ein Problem, denn die Bildung hängt immer noch an den Büchern, oder zumindest an den Texten auf dem Bildschirm, und das heißt an Schrift. Warum ist das so? Warum können nicht auch Bilder Bildung vermitteln? Warum kann man sich nicht durch Fernsehen bilden? Was ist an Schrift so Besonderes? Das Femsehen zeigt mündliche Kommunikation in quasi realen (oder simulierten) Situationen. In ihr ist aber der Sinn des Mitgeteilten mit dem Medium der Kommunikation - Gesten, Stimme, Körpersprache etc. - unauflöslich verflochten. Der Sinn einer Mitteilung ist mit der Form der dramatischen Präsentation verschmolzen. Deshalb ist er unmittelbar einleuchtend - aber nicht referierbar. Das merkt man immer dann, wenn schlichte Menschen oder Kinder besonders lustige Situationen erzählen wollen, die sie gerade erlebt haben. Sie beschwören dann durch ein paar Zitate eine Vision der gerade erlebten Situation hervor („und er dann: ,Ey du' - und sie: .Na, hör mal'. Haben wir gelacht!"). Aber die Zuhörer, die diese Erinnerung nicht teilen, sehen sich ratlos an: Ihnen bleibt die Komik dieser Äußerung verschlossen.

Erst die Schrift löst die Sprache aus der konkreten Situation und verselbständigt sie gegen den unmittelbar gegebenen Kontext (Zusammenhang). Was bei dieser Transformation (Umwandlung) gleichbleibt, ist das, was wir Sinn nennen. [...] Erst Schrift hat die Sprache fixiert, kontrollierbar gemacht und am Regelsystem der Grammatik orientiert. [...] Durch Linearisierung der Abfolge Subjekt - Prädikat - Objekt (der Mann beißt den Hund) mit allen Beifügungen, Nebensätzen und Einschüben kann die logische Ordnung des Gedankeos auf die Sequenz (Abfolge) der Satzteile abgebildet und darüber kontrolliert werden. So etwas muss man trainieren. Das verlangt die Fähigkeit, die Simultanstimulation durch Bilder in ein Nacheinander zu verwandeln. Dabei muss man das Tempo herausnehmen und warten können, bis in einem komplexen Satz endlich das Prädikat daherkommt (.Dein Onkel, der, wie du weißt, ein scharfes Auge hat, hat gestern um 5 Uhr, als er gerade am Marienplatz vorbeifuhr, in der Straßenbahn ..." .Ja, was denn nun?* wirst du rufen. .Wart's ab", sagt die Schrift und fährt fort:.... in der Straßenbahn, die vollbesetzt war, was um diese Zeit nichts Ungewöhnliches ist obwohl das nur für die Werktage gilt..." Inzwischen stehst du kurz vor einem Nervenzusammenbruch und schreist: „Was hat er, wird man's hören, was hat der Onkel, was hat er in der Straßenbahn, ich flehe dich an, sag es mir endlich, was hat er getan?" .... 10 Pfennig gefunden.") Bis diese Information endlich erscheint muss man den Sinnbogen für Anschlüsse präsenthalten, und erst wenn das letzte Wort um die Ecke biegt erschließt sich im Rückblick auf die bisherige Wortprozession der Sinn. [...] Besonders der Ungeübte empfindet diese Spannung als unangenehm. Man hat das Gefühl, dass die Stimulation (Erregung) des Hirns gebremst wird. Das ist seit der Ausbreitung des Fernsehens eine allgemeine Erfahrung geworden, über die Lehrer immer wieder klagen: Die Frustrationstoleranz (Fähigkeit Frustration zu ertragen) der Kinder nimmt ab, sie halten die für die Sinnbildungsprozesse nötige Retardation (Tempodrosselung) nicht mehr aus. Sie wünschen sich deshalb den Unterricht nicht als Lernprozess, sondern als Unterhaltung.

Die Kultusminister sind daraufhin in einen Zustand kollektiver Umnachtung gefallen und haben die Rolle der schriftlichen Arbeiten für die Ermittlung der Zensuren zugunsten mündlicher Mitarbeit laufend reduziert. Zu einem Zeitpunkt an dem die mündliche Kommunikation sowieso auf dem Vormarsch ist, geben sie den Standard der schriftlichen praktisch auf. Damit haben sie die Rolle der Schule gegenüber den Elternhäusern weiter reduziert. Nur noch diejenigen Kinder machen sich das Lesen und Schreiben zur Gewohnheit in deren Familien das sowieso als selbstverständlich gilt: in bildungsbürgerlichen Haushalten. Das sind dann die Milieus, in denen die Eltern den Femsehkonsum der Kinder überwachen, einschränken und dafür sorgen, dass ihre Sprösslinge ihre Phantasiebedürfnisse zuerst aus Büchern befriedigen. Erst wenn das Lesen keine Mühe mehr macht sondern nur Vergnügen, sollte man die Glotze freigeben. Tut man das nicht bleibt das Lesen ein Leben lang etwas Mühseliges. Wer so aufgewachsen ist liest später nicht mehr, als er unbedingt muss, und das auch noch ungern. Auf diese Weise produziert die Schulpolitik zwei Klassen von Menschen: Die einen sind gewohnheitsmäßige Leser, sie absorbieren ständig neue Informationen und sind gewohnt ihre Gedanken durch die Orientierung an der Schrift automatisch besser zu strukturieren. Dadurch erwerben sie eine Wahrnehmung, zu der der mitlaufende Überblick über den Satzbau, die Logik des Gedankens und die einzelnen Satzteile gehört. Zugleich entwickeln sie dabei auch ein Gefühl für den Aufbau verschiedener Texttypen (Bericht Exposition, Analyse, Erzählung, Essay etc.). Dadurch fällt ihnen auch das Schreiben leichter, und sie können ihre mündlichen Aussagen nach dem Modell schriftlicher Texte gliedern.

Die andern lesen nur, wenn sie dazu gezwungen sind, ansonsten sehen sie fern. Die Fernsehbilder laufen aber synchron zum Stimulationsbedarfs des Hirns. Wer daran gewöhnt ist, kann die Innenwahrnehmung nur noch schwer von der äußeren abkoppeln, d.h. er kann sich nicht konzentrieren. Jeder Text, der das Niveau von Comic-Ausrufen wie .Wham" und .Boing" übersteigt wirkt dann wie eine Serie von Schikanen. Die Angehörigen dieser Nichtlesergruppe erleben Bücher als Zumutungen; im Grunde können sie Leute, die gerne lesen, nicht verstehen. Sie misstrauen ihnen. Die Welt der Bücher ist für sie eine Verschwörung, die dem Ziel dient, ihnen ein schlechtes Gewissen zu verschaffen. Auf diese Weise entwickeln sie eine regelrechte Abneigung gegen Bücher, und da sie auch ihre Fachbücher ungern lesen, geraten sie im Beruf bald ins Hintertreffen. Sie entwickeln dann einen Hass auf theorielastige Besserwisser und singen das Hohelied der Praxis. Da sie nicht ahnen, dass durch die Leseabstinenz und Textfeindlichkeit auch der Stil ihrer mündlichen Kommunikation gelitten hat, verstehen sie nicht dass ihre Erfahrungen so wenig Anerkennung finden, und nach und nach interpretieren sie jeden Versuch eines anderen, einen komplexen Gedanken zu entfalten und angemessen auszudrücken, als einen Anschlag auf ihr Selbstwertgefühl. Deswegen meiden sie jeglichen Kontakt zum Milieu der Bücherleser und geraten so langsam ins gesellschaftliche Schattenreich eines neuen Analphabetismus.

Wer selbst ungern liest sollte sich deshalb ernsthaft überlegen, ob es sich nicht lohnt diese Unwilligkeit zu überwinden, sonst bleiben ihm die Fleischtöpfe der Bildung ebenso verschlossen wie der Zugang zu den gehobenen Einkommen. Wer noch keine Lesegewohnheit hat sollte sie vielleicht gesondert trainieren an Stoffen, für die er sich besonders interessiert, und seien es erotische Romane. Er sollte das Training wie eine Art Jogging betrachten, eine Übung, um geistig fit zu werden und zu bleiben.
Das Lesen ist dann etwas,dem man jeden Tag eine bestimmte Zeit widmet, bis es zur Gewohnheit geworden ist."

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